Das war ein Unfall - 1982/83: Jean-Marie Pfaff blickt 11FREUNDE

Publish date: 2024-11-05

Jean Marie Pfaff, als Junge aus der Peri­pherie von Ant­werpen wurden Sie zum größten bel­gi­schen Fuß­baller aller Zeiten. Woher haben Sie Ihr Talent?
Das wurde mir in die Wiege gelegt, zum Fuß­baller bin ich dann ganz klas­sisch auf der Straße geworden.

Wie müssen wir uns Ihre Jugend vor­stellen?

Ich hatte fünf Brüder. Nach der Schule ging es raus zum Kicken. Einen Rasen kannten wir nicht, auf der Wiese haben bei uns nur die Pferde geweidet.

Und Ihr Ehr­geiz kannte keine Grenzen.

Zumin­dest hatte ich immer einen Hang zum Per­fek­tio­nismus. Mein Vater starb, als ich zwölf war. Ich wuchs mit ins­ge­samt elf Geschwis­tern auf, und wir lebten in sehr ein­fa­chen Ver­hält­nissen. So lernten wir früh, uns durch­zu­setzen. Bis auf einen haben es alle meine Brüder bis in die erste bel­gi­sche Liga geschafft.

Wie äußerte sich Ihr Per­fek­tio­nismus?

Mir musste nie ein Trainer in den Hin­tern treten. Ständig suchte ich nach Wegen, besser zu werden. Schon lange bevor es üblich war, dass Tor­hüter ein spe­zi­elles Pro­gramm absol­vieren, habe ich mit Sepp Maier in Mün­chen Tor­wart­trai­ning in seiner Ten­nis­halle in Anzing gemacht.

Wie müssen wir uns das vor­stellen?

Bald nach meinem Wechsel 1982 schlug ich dem Klub vor, ihn als Tor­wart­trainer ein­zu­stellen.
Aber damals wollten sie ihn nicht, offenbar waren die Ver­ant­wort­li­chen der Mei­nung, dass Sepp zu viel Blöd­sinn machte. Des­halb fuhr ich zwei Jahre lang zwei, drei Mal in der Woche nach der Ein­heit an der Säbener zu ihm nach Anzing und trai­nierte mit ihm.

Und was hielten die Bayern-Granden davon?

Die wussten nichts. Irgend­wann saß ich nach einem Spiel beim HSV neben Franz Becken­bauer im Flug­zeug, der damals die Natio­nalelf betreute, und riet ihm, Sepp als Tor­wart­trainer zum DFB zu holen. Er hat sich über­zeugen lassen, aber der FC Bayern hat sich erst dafür ent­schieden, als ich Mün­chen schon wieder ver­lassen hatte.

Warum wollten Sie ursprüng­lich Tor­wart werden?

Ich konnte nie ver­lieren, und es fiel mir leichter, wenn es in meiner Hand lag, den ent­schei­denden Fehler zu machen, als wenn es ein anderer tat. Hinzu kam, dass ich immer gerne Fritten mit Mayon­naise gegessen habe. Mir fehlte auf dem Platz die Kon­di­tion, um ein Spiel­ma­cher zu sein.

Und eines Tages ent­deckten Sie die Talent­för­derer des KSK Beveren beim Kicken auf der Straße?

Ach was, ich folgte dem Bei­spiel meines großen Bru­ders Jean-Bap­tiste und schloss mich dem Verein an. Damals war der Klub ein kleiner Zweit­li­gist. Wir hatten Hob­by­trainer, die im Hafen oder auf der Post arbei­teten. Die moti­vierten uns, indem sie uns nach guten Spielen auf die Schulter klopften oder uns eine Scho­ko­kugel als Beloh­nung gaben.

Wann erwachte der Wunsch in Ihnen, Pro­fizu werden?
Es gab in den Sech­zi­gern und Sieb­zi­gern kaum Voll­profis in Bel­gien. Natür­lich träumte ich von Wohl­stand und tollen Autos. Aber diese Träume standen nie in direkter Ver­bin­dung zum Fuß­ball.

Was ver­dienten Sie bei dem Pro­vinz­klub?

Ich bekam 60 Euro Grund­ge­halt und zusätz­lich rund 100 Euro pro Punkt. Davon musste ich die Hand­schuhe und mein Schuh­werk selbst bezahlen. Bis ich nach Mün­chen wech­selte, hat meine Frau die Tri­kots gewa­schen, und ich ging par­allel zum Fuß­ball einer gere­gelten Arbeit nach.

Als was?

Mit 15 fing ich als Tech­niker in einer Weberei an, anschlie­ßend habe ich einige Jahre in der Post als Brief­sor­tierer gear­beitet. Mit Anfang 20 machte ich dann eine Aus­bil­dung bei der Bank.

Obwohl Sie Ange­bote von grö­ßeren Klubs bekamen.

Ajax wollte mich haben, AZ Alk­maar, Twente Enschede, später auch Feye­noord.

Und warum sind Sie nicht gewech­selt?

Ich war glück­lich in Beveren, ich komme aus dieser Gegend. Meine Familie war mein Ein und Alles. Fuß­ball sollte Spaß machen, ich habe es anfangs nie als Geschäft ver­standen. Wir hatten eine gute Mann­schaft und spielten in den Sieb­zi­gern ständig um die Meis­ter­schaft. Ich hatte ein­fach das Gefühl, in Beveren noch etwas errei­chen zu können.

In der Saison 1977/78 gewannen Sie den bel­gi­schen Pokal und kamen bis ins Halb­fi­nale des Euro­pa­po­kals.

Wir haben sogar Inter Mai­land aus dem Wett­be­werb geworfen. Erst gegen den FC Bar­ce­lona mit Johan Nees­kens und Hans Krankl mussten wir uns geschlagen geben. Ich bin damals zur Vor­be­rei­tung zu den Spielen von Borussia Mön­chen­glad­bach gefahren, um die Euro­pa­cu­p­at­mo­sphäre ken­nen­zu­lernen. Ich fuhr nach­mit­tags rüber, kam nachts zurück und ging mor­gens wieder zur Arbeit.

Wie bitte, selbst in der Euro­pa­po­kal­saison haben Sie noch voll gear­beitet?

Natür­lich, mor­gens um halb acht stand ich auf der Matte, und es ging jeden Tag bis halb vier. Und wenn wir in Mai­land spielten, musste ich zwei Tage unbe­zahlten Urlaub nehmen.

Im Jahr 1979 stand Ihre Kar­riere vor dem Aus. In einem Pokal­spiel 1979 gegen den KSC Lokeren sollen Sie einen Lini­en­richter getreten haben.

Ich schwöre beim Leben meiner Kinder: Ich habe nichts gemacht. Aber es folgte die schlimmste Zeit meines Lebens.

Sie wurden für ein halbes Jahr gesperrt.

Die Öffent­lich­keit ließ mich fallen wie eine heiße Kar­toffel. In dieser Zeit bekam meine Mutter einen Herz­in­farkt, meine Schwie­ger­mutter litt unter Magen­bluten, und ich flog aus der Natio­nal­mann­schaft. Die Kinder wurden in der Schule gehän­selt.

Was war pas­siert?

Lokeren erzielte in der letzten Spiel­mi­nute beim Stande von 2:1 für uns ein Tor. Der Lini­en­richter zeigte Abseits an, doch als der Schieds­richter ihn fragte, hielt er den Mund und gab den Treffer. Nach dem Abpfiff traf ich den Lini­en­richter auf dem Weg in die Kabine. Er wollte mir die Hand geben, aber ich ver­wei­gerte ihm den Hand­schlag. Genau in diesem Moment fiel neben uns eine Zei­tung her­unter, die ich mit dem Fuß bei­seite kickte. Das Gespann sprach Fran­zö­sisch, ich ver­stand nicht, was sie redeten. Hin­terher stand im Spiel­be­richt, ich hätte ihm einen Knie­stoß ver­passt.

Was hatten die Refe­rees gegen Sie?

Meine Erklä­rung ist, dass die großen Klubs aus Brüssel ein Pro­blem mit dem Erfolg von Beveren hatten – und das Gespann stammte aus der Haupt­stadt. Ich hörte später, dass die Schieds­richter nach dem Spiel von den Ver­ant­wort­li­chen von Lokeren in ein Lokal ein­ge­laden wurden, in das Ver­hei­ra­tete nor­ma­ler­weise nicht hin­ein­gehen … Sie wissen, was ich meine.
Und dort sollen sie mor­gens um vier Uhr das Schreiben an den Ver­band auf­ge­setzt haben. Eine Ver­schwö­rung.

Wie ging es Ihnen in der Zeit Ihrer Sperre?

Ich habe einen Monat gar nicht mehr trai­niert, ich war traurig und tief ver­letzt. In dieser Phase dachte ich das erste Mal daran, Bel­gien zu ver­lassen. Als ich wieder ins Trai­ning ein­stieg, lief mir unser 50-jäh­riger Co-Trainer davon, so lustlos fühlte ich mich. Wenn die Sperre nicht gewesen wäre, wäre ich viel­leicht nie weg­ge­gangen.

Gute zwei Jahre später wech­selten Sie zum FC Bayern.

Kurz vor der Sperre hatten wir bei einem Tur­nier in Tou­louse gegen Bayern gespielt. Da wurde der Klub auf mich auf­merksam. Anfang 1982 kam dann ein Anruf, dass die Bayern einen Tor­wart suchten, weil sie mit Man­fred Müller und Walter Jung­hans nicht mehr ganz glück­lich waren. Ich traf Uli Hoeneß inko­gnito im Hotel in Düs­sel­dorf.
Ein Treffen wie in einem Agen­ten­film. Sie machten mir ein Angebot – und wieder bekam ich Bedenken, ob ich unter­schreiben sollte.

Was war denn los?

Mir machte die Bun­des­liga ein biss­chen Angst, die deut­sche Dis­zi­plin, der stän­dige Erfolgs­druck. Wie gesagt, bis dahin war Fuß­ball für mich Spaß. Dann gingen die Bilder von Ewald Lienen durch die Presse, dem im Spiel gegen Werder Bremen der Ober­schenkel auf­ge­schlitzt worden war. Sollte ich in so eine Liga wech­seln? Meine Frau drohte fast mit Schei­dung, als sie meine Zweifel hörte. Sie erin­nerte mich daran, wie übel man mir bei der Sperre mit­ge­spielt hatte. Ich unter­schrieb – zum Glück.

Ihr Start in Mün­chen fiel denkbar schlecht aus. Beim Sai­son­auf­takt gegen Werder Bremen glitt Ihnen ein Ein­wurf von Uwe Reinders über die Finger, der FC Bayern unterlag mit 0:1.

Das war kein Fehler, das war ein Unfall. Ich wollte den Ball aus dem Straf­raum fausten, als von hinten Klaus Augen­thaler hoch­sprang und meinen Arm nach unten drückte. Da war in der Halb­zeit gleich der Teufel los.

Gingen die Mit­spieler auf Sie los?

Nein, aber Pal Csernai machte mich runter: Du bist jetzt nicht mehr in Bel­gien.“ Ich spürte den eisigen Wind, der mir ins Gesicht blies. Immerhin: Paul Breitner kam nachher zu mir und sagte, ich solle mich nicht ver­rückt machen.

Wie tief saß der Frust?

Bel­gi­sche Zei­tungen schrieben: In drei Monaten kommt Pfaff zurück.“ Ich kannte diesen Druck von der Natio­nalelf, wo ich als Spieler eines kleinen Klubs anfangs auch der Kof­fer­träger sein sollte. Wenn ich das nicht sein wollte, musste ich mich durch­setzen! Eine Woche nach Bremen hielt ich super gegen For­tuna Düs­sel­dorf. Das Publikum im Olym­pia­sta­dion jubelte: Jean- Marie, Jean-Marie!“ Da wusste ich, dass ich nicht allein bin.

Wie gut war die Kame­rad­schaft in der Münchner Mann­schaft?

Im Pro­fi­fuß­ball hat man keine Freunde, da gibt es nur Kol­legen. Das merkte ich, wenn ich ver­letzt war oder ein unglück­li­ches Tor kas­sierte.
Die anderen Tor­leute hatten ihre Für­spre­cher im Team, die lau­erten nur darauf, dass ich einen Fehler mache. Ich nenne keine Namen, aber ich habe es sogar erlebt, dass ein Spieler einen Gegner vor­bei­ziehen ließ, um mich in Schwie­rig­keiten zu bringen.

Wie haben Sie darauf reagiert?

Ich habe nur gesagt: Mein Freund, mach das nie, nie wieder.“

1987 sagten Sie: Im Straf­raum emp­finde ich Ein­sam­keit.“

Ein Tor­wart ist immer allein, denn er ist der ent­schei­dende Mann. Wenn ein Stürmer eine Chance ver­gibt, ist es eine Klei­nig­keit, aber wenn einem Keeper ein Eck­ball durch­rutscht, ist es eine Kata­strophe. Ich habe auch wäh­rend der Spiele immer nach Beschäf­ti­gung gesucht, ständig Gym­nastik gemacht, nicht nur um warm zu bleiben, auch um diese Ein­sam­keit zu ver­gessen.

Wer war Ihr Zim­mer­kol­lege in Mün­chen?

Vier Jahre lang Lothar Mat­thäus und später Hansi Flick.

Wie war es mit Lothar Mat­thäus?
Laut (lacht). Er hat lang Fern­sehen geschaut, wäh­rend ich oft schon um elf Uhr schlafen ging. Aber Lothar ist Lothar, wir waren gute Kol­legen.

In die Bayern-Annalen gingen Sie ein, als Sie im UEFA-Cup-Spiel 1983 gegen PAOK Salo­niki im Elf­me­ter­schießen den ent­schei­denden Ball zum 9:8 ver­wan­delten. Waren Sie ein guter Feld­spieler?

Im Trai­ning war ich beim Fünf gegen Zwei dabei, auch wenn ich oft über­legt habe, es sein zu lassen.

Warum?

Weil man für jedes Mal Tun­neln zehn Mark in die Mann­schafts­kasse zahlen musste. Das war sehr teuer.

Aber für einen Elf­meter im ent­schei­denden Moment waren Sie gut genug?

Ganz ehr­lich, ich hatte vor Salo­niki noch nie einen Elf­meter geschossen. Aber in dem Shoot-out hatten schon alle Feld­spieler geschossen. Plötz­lich sagte Udo Lattek: Jean-Marie, du musst schießen.“ Ein Schock. Mein Ersatz­keeper Man­fred Müller war ein netter Kol­lege, er hat mir Mut zuge­spro­chen. Also habe ich tief durch­ge­atmet und das Ding ver­wan­delt.

Warum gingen Sie nach Mün­chen zurück in die bel­gi­sche Pro­vinz zu Lierse SK?

Meine Schwie­ger­mutter und meine Schwester waren 1987 gestorben. Ich sehnte mich nach der Nähe zur Familie. Wissen Sie, ich habe immer gewusst, dass das Leben erst nach der Kar­riere beginnt. Dann erweist es sich, ob man als Mensch zurecht­kommt. Des­wegen wusste ich auch immer, wo mein Platz ist.

Der Höhe­punkt Ihrer fuß­bal­le­ri­schen Lauf­bahn war die WM 1986 in Mexiko. Die bel­gi­sche Elf schei­terte erst im Halb­fi­nale gegen den spä­teren Welt­meister Argen­ti­nien.

Unser Coach Guy Thys hatte ein Team aus Spie­lern von kleinen Ver­einen zusam­men­ge­stellt, nachdem jahr­zehn­te­lang in Bel­gien nur die Spieler von Ander­lecht, Lüt­tich und Brügge den Stamm der Natio­nalelf bil­deten. Wir waren hungrig, unser Ehr­geiz hat uns so weit gebracht. Der größte Erfolg des bel­gi­schen Fuß­balls. Aber wissen Sie, dass ich bei dem Spiel gegen Argen­ti­nien auch immer an die Bun­des­liga denken muss?

Nein, warum denn?

Weil ich beim Ein­laufen ins Azte­ken­sta­dion hörte, wie jemand von der Tri­büne ständig brüllte: Jean-Marie, Jean-Marie!“ Erst dachte ich, es sei nur ein ver­rückter Fan, aber es hörte ein­fach nicht auf. Irgend­wann schaute ich rüber und sah, wer mich da anfeu­erte.

Wer denn?

Otto Reh­hagel winkte mir von der Tri­büne aus zu.

Nach Ihrem Rück­tritt 1990 haben Sie sich aus dem Fuß­ball zurück­ge­zogen.
Damals habe ich ver­spro­chen, zehn Jahre für meine Kinder da zu sein. Meine Familie hatte sich bis dahin immer nach mir gerichtet. Als die zehn Jahre um waren, bekamen wir von einem Sender das Angebot, eine Doku-Soap über unsere Familie zu machen.
Eigent­lich sollten es nur ein, zwei Staf­feln werden, am Ende wurden es zehn Jahre. Wir haben gerade die letzten Folgen gedreht.

Sie haben zehn Jahre lang mit Kameras gelebt. War das nicht furchtbar nervig?

Das hat mich nie gestört. Ich wollte zeigen, dass ein Mensch, der durch den Fuß­ball zum Welt­star geworden ist, normal bleiben kann. Wir haben am Sonn­tag­abend um halb neun regel­mäßig zwei Mil­lionen Zuschauer. Wahn­sinn.

Fehlt Ihnen der Fuß­ball?

Seit Jahren halte ich Vor­träge für Unter­nehmen über meinen Wer­de­gang, das Ver­hältnis zwi­schen Geschäfts­mann und Fuß­baller. Nun über­lege ich, ob ich noch mal als Trainer anheuere. Meine Töchter haben gesagt, es wäre doch nett, sich mal Spiele meiner Mann­schaft im Sta­dion anzu­schauen …

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